«In der Raumplanung sind Sofortmassnahmen entscheidend, um das Stabilisierungsziel zu erreichen»
Carte blanche für Damian Jerjen, EspaceSuisse und ETH Zürich
13.11.2024 – Die Trennung von Baugebiet und Nichtbaugebiet, wie sie sich aus der Verfassung ableitet, wurde im Lauf der Jahre immer mehr verwässert. Die Stabilisierungsziele, die mit der zweiten Teilrevision des Raumplanungsgesetzes eingeführt werden, bieten die Chance für die notwendige Kurskorrektur. Dafür müssen die Kantone aber rasch konkrete Massnahmen umsetzen.
Der Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder und muss nicht mit der Haltung der SCNAT übereinstimmen.
Die Raumplanung dient der zweckmässigen und haushälterischen Nutzung des Bodens und der geordneten Besiedlung des Landes. So steht es seit 1969 in Artikel 75 der Bundesverfassung. Gestützt auf Artikel 73 ist sie zudem dem Ziel der Nachhaltigkeit verpflichtet. Daraus ergeben sich wichtige Grundsätze wie die Trennung von Baugebiet und Nichtbaugebiet, die Konzentration der Siedlungen, die Eindämmung des Bodenverbrauchs oder die Schonung der offenen Landschaft. Diese Grundsätze sind auch die Massstäbe, an denen sich die zweite Teilrevision des Raumplanungsgesetzes (RPG 2) und die dazugehörige Verordnung messen lassen müssen. Ziel der Teilrevision – die auch als indirekter Gegenvorschlag zur Landschaftsinitiative gilt – ist die Stabilisierung der Anzahl Gebäude und der Versiegelungen im Nichtbaugebiet und damit auch die Stärkung des erwähnten Trennungsgrundsatzes. Dies wurde im eidgenössischen Parlament von allen Seiten immer wieder betont.
RPG 2 ist ein Paradigmenwechsel
Doch um was geht es beim Trennungsgrundsatz eigentlich? Dieser und das damit verbundene weitgehende Bauverbot ausserhalb der Bauzonen dienen vor allem dem Schutz des Bodens, auch als Produktionsgrundlage der Landwirtschaft. Dies hat zur Folge, dass gewisse landwirtschaftliche Bauten, die für die Bewirtschaftung des Bodens nicht notwendig sind, in Bauzonen oder Intensivlandwirtschaftszonen erstellt werden müssen. Was im Raumplanungsgesetz von 1979 mit den Artikeln 16 (Landwirtschaftszonen)und 24 (Ausnahmen ausserhalb der Bauzonen) zurückhaltend umgesetzt wurde, hat sich im Laufe der Jahre zu einem unübersichtlichen Regelwerk mit einer Vielzahl von Ausnahmebestimmungen entwickelt und den verfassungsmässigen Grundsatz der Trennung von Baugebiet und Nichtbaugebiet immer mehr verwässert.
Gerade angesichts aktueller Herausforderungen wie des Klimawandels und der Biodiversitätskrise muss diesem Grundsatz und damit dem Natur- und Landschaftsschutz mehr Gewicht beigemessen werden. Zwar hat die Raumplanung mit der ersten Teilrevision des Raumplanungsgesetzes (RPG 1) vor rund zehn Jahren Massnahmen gegen den Flächenverbrauch und die Zersiedelung eingeleitet. Und erste Analysen und Einschätzungen zeigen, dass RPG 1 wirkt und die Siedlungsflächen weniger stark wachsen als die Bevölkerung.
Das genügt aber nicht. Für einen wirksamen Klima-, Natur- und Landschaftsschutz braucht es weitere Bestrebungen in Richtung einer starken Nachhaltigkeit. Die mit RPG 2 eingeführten Stabilisierungsziele für den Gebäudebestand und für die Bodenversiegelung stellen einen Paradigmenwechsel in diese Richtung dar. Allerdings nur, wenn die verschiedenen neuen Ausnahmen und möglichen Mehrnutzungen das eigentliche Ziel nicht aushöhlen. Eine weitere Aufweichung des Trennungsgrundsatzes wäre ein schwerer Rückschlag für die schweizerische Raumplanung und würde auch die mit RPG 1 eingeleitete Innenentwicklung und Verdichtung in Frage stellen.
Kompensationspflicht für Bauten ausserhalb der Bauzonen
RPG 2 wird die Kantone in der Umsetzung ausserordentlich fordern, weshalb sie mit den entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen auszustatten sind. Damit die konsequente Einhaltung der Stabilisierungsziele sichergestellt werden kann, müssen die Kantone konkrete Sofortmassnahmen zur Stabilisierung von Gebäudebestand und Bodenversiegelung ausserhalb der Bauzonen treffen. Warten sie zu, bis die in den kantonalen Richtplänen erarbeiteten Gesamtkonzepte vom Bund genehmigt sind, verstreicht wertvolle Zeit und die Einhaltung der Stabilisierungsziele und damit auch des Trennungsgrundsatzes ist gefährdet.
Eine mögliche Sofortmassnahme wäre eine unmittelbare Kompensationspflicht ab dem Inkrafttreten der Teilrevision für alle Bauten ausserhalb der Bauzonen, die nicht zonenkonform oder standortgebunden sind. Dies käme im Grundsatz einer Rückkehr zum Regime von 1979 nahe. Bei allen Bauten ausserhalb der Bauzonen ist zudem ein besonderes Augenmerk auf das Konzentrationsprinzip (räumliche und sachliche Nähe) sowie insbesondere auf die optimale Einpassung in die Landschaft (Planungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 2 Bst. b RPG) zu richten. Ein kürzlich von Espace Suisse erstelltes Gutachten kommt zum Schluss, dass bei beiden Aspekten Luft nach oben besteht.
So kann der mit RPG 2 angestrebte Paradigmenwechsel gelingen und der Dreiklang von Innenentwicklung, flächensparendem Bauen und Rückgabe von Flächen an Natur und Landschaft durch Rückbau und Entsiegelung im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert werden.
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Damian Jerjen ist Direktor von EspaceSuisse, dem Schweizer Verband für Raumplanung und Professor of Practice an der ETH Zürich. Der Ökonom und Raumplaner ist zudem Plenumsmitglied des Forums Landschaft, Alpen, Pärke der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz.
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