Grosse Transformation zur Nachhaltigkeit – wie geht das?
ProClim Flash 72
Prof. Irmi Seidl, Leiterin der Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL)
Die Grosse Transformation ist eine einmalige Aufgabe in der Menschheitsgeschichte, ohne Vorbild, ohne Erfahrung. Doch wie kann die Weltgemeinschaft zu einer postfossilen, ressourcenleichten, nachhaltigen und wachstumsunabhängigen Wirtschafts- und Lebensweise gelangen, um so den Fortbestand unserer seit etwa 10 000 Jahren gewachsenen Zivilisation zu sichern? Um die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad Celsius zu begrenzen? Das Massensterben der Arten, die Meeresverschmutzung und die allgegenwärtige Vergiftung mit Schwermetallen, Chemikalien, Pestiziden und Plastik zu stoppen?
Der deutsche Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat 2011 mit dem Bericht «Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Grosse Transformation» die öffentliche Debatte zur Transformation global angestossen. Doch der Begriff «Grosse Transformation» war bereits 1944 ein Thema: Karl Polanyi untersuchte in seiner Studie «The Great Transformation: The Political and Economic Origins of Our Time» den Übergang Englands von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Er diagnostizierte einen ausufernden Materialismus, also genau das, woran unser System heute so sehr krankt. Allerdings vollzog sich diese Transformation damals schleichend – heute müssen wir sie aktiv gestalten und haben weniger Zeit dafür.
Je nach Disziplin, Problemfokus und Gesellschaftsverständnis stehen andere Wege im Vordergrund: Der WBGU setzt auf Nischenakteurinnen und -akteure sowie den «gestaltenden Staat». Erstere bringen Innovationen aller Art und neue Produktions- und Konsumweisen hervor. Zweiter schafft die förderlichen Rahmenbedingungen, unterstützt die Verbreitung der Innovationen und kooperiert global, um die nötigen Abkommen, Transfers und Institutionen auf den Weg zu bringen. Auch viele andere Fachleute messen der Kreativität und dem Engagement im Kleinen eine grosse Kraft bei. Andere hingegen setzen auf kollektive Akteure und Akteurinnen in Form von sozialen Bewegungen: Die Umwelt- oder Frauenbewegung beispielsweise zeigen, dass die Mobilisierungs- und Handlungsstrategien solcher Bewegungen durchaus Wert- und Denkstrukturen ändern können – und in Folge auch das Handeln und politische Engagement. Die Fridays-for-Future-Jugend ist ein aktuelles Beispiel dafür. Weitere Fachleute wiederum argumentieren, dass erst durch die eigene Erfahrung, nämlich dass es anders auch gut geht, festgefahrene Gewohnheiten überwunden werden können und Gefallen an einer ressourcenleichten, ökologischen Lebensweise gefunden wird. Empfohlen wird, Experimente mit neuen Lebensweisen zu ermöglichen und verbreiten.
Diese verschiedenen Ansätze stecken, was das Wissen und Wirkung über sie anbelangt, in den Kinderschuhen. Doch der WGBU möchte noch weiter gehen: Neben Transformationsforschung fordert er eine transformative Forschung, also nicht nur die Beobachtung und Analyse, sondern auch die Beteiligung der Forschenden an der Transformation durch ihr Tun.
Inzwischen gibt es einzelne Studiengänge, die Transformationsdesign lehren und erforschen. Mit weiteren solchen Studiengängen, die beide Forschungsrichtungen – die Analyse und die Beteiligung – einbeziehen, können die Hochschulen dazu beitragen, dass sich die Grosse Transformation beschleunigt.
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