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Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler am CERN entwickeln Beatmungsgerät

Teilchenphysik hilft gegen Corona

Das technische Knowhow, das Physikerinnen und Physiker in der Forschung nutzen, könnte bald im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie gute Dienste leisten. Ein internationales Wissenschaftlerteam mit starker Schweizer Beteiligung hat in Rekordzeit ein Beatmungsgerät entwickelt, das künftig bei Lungenkrankheiten wie Corona helfen könnte, insbesondere in Staaten mit prekärer medizinischer Infrastruktur.

Paula Collins arbeitet als Physikerin am LHCb-Experiment des CERN.
Bild: Foto: Maximilien Brice; Julien Marius Ordan/CERN

An einwandfrei funktionierenden Beatmungsgeräten hängt das Leben vieler Patientinnen und Patienten, die Atemprobleme haben oder gar nicht mehr selbständig atmen können. Das führt die aktuelle Pandemie der Lungenkrankheit COVID-19 eindrücklich vor Augen. Hoch entwickelte Länder wie die Schweiz können für die Versorgung von Lungenpatienten auf eine hinreichende Zahl verlässlicher Beatmungsgeräte zurückgreifen. Weniger gut ist die Situation in vielen Entwicklungsländern mit fragiler medizinischer Infrastruktur. „Qualitativ hochstehende Ausrüstung zur Beatmung steht in bestimmten Regionen der Welt nur ungenügend zur Verfügung; so können beispielsweise einkommensschwache Länder in Afrika kaum versorgt werden“, sagt Paula Collins.

Paula Collins ist eine an der Universität Oxford ausgebildete Wissenschaftlerin, die am Europäischen Teilchenphysiklabor CERN in Genf am grossen LHCb-Experiment arbeitet. Dass sich die Hochenergiephysikerin mit Medizintechnik befasst, ist aussergewöhnlich – und hat doch einen guten Grund: Paula Collins ist Teil eines Wissenschaftlerteams, das sich durch die COVID-19-Pandemie nicht unterkriegen liess, sondern diese zum Anlass nahm, ihr wissenschaftliches Knowhow in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Die Gruppe entwickelte am CERN ein Beatmungsgerät für Patienten mit COVID-19 und anderen Lungenkrankheiten. Das Gerät kann aus Standardkomponenten relativ günstig hergestellt werden, ist auch für Personen mit wenig Erfahrung gut zu bedienen und breit einsetzbar, wie die Entwicklerinnen und Entwickler betonen.

Breit einsetzbar

Das Beatmungsgerät trägt den Namen HEV. Die Abkürzung steht für ‚High Energy community Ventilator‘, was soviel bedeutet wie: Beatmungsgerät aus der Gemeinschaft der Hochenergiephysik. Nach Aussage der Entwicklerinnen und Entwickler eignet sich HEV für den Einsatz in Spitälern, auf Intensivstationen ebenso wie auf normalen Stationen. Es ist für die Beatmung intubierter Patientinnen und Patienten ebenso gedacht wie für Personen, die nicht-invasiv versorgt werden müssen. „Die Funktionalität zielt auf die Behandlung der breiten Mehrheit der COVID-19-Fälle ab“, schreiben die am Projekt beteiligten Physikerinnen und Physiker, „findet HEV Eingang in den Spitalalltag, könnte dies dafür sorgen, dass die Top-Beatmungsgeräte für die besonders komplexen und herausfordernden Fälle zur Verfügung stehen.“

Die Idee für HEV entstand zeitgleich mit dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020. Der Forschungsbetrieb am CERN stand wegen des Lockdowns von einem Tag auf den anderen still. Die Physikerin Paula Collins, der Elektroingenieur Jan Buytaert sowie ihre Mitstreiter aber wollten nicht Däumchen drehen. So entstand unter Jan Buytaerts Führung die Idee für eine Maschine, die den Infizierten mit schwerem Krankheitsverlauf helfen würde. Dass die Hochenergiephysiker ausgerechnet auf ein Beatmungsgerät kamen, erklärt sich durch den Umstand, dass die Laborapparaturen, die nötig waren für die Kühlung des LHCb-Experiments mittels flüssigem Kohlendioxid, eine grosse Ähnlichkeit zur Funktionsweise eines Beatmungsgeräts aufweist.

Beiträge von Schweizer Wissenschaftlern und Lungenärzten

Am 25. März unterbreitete das Projektteam seinen Vorschlag dem CERN-Management, welches dem Projekt im Rahmen der ‚CERN-gegen-COVID-19‘-Taskforce grünes Licht gab. Zwei Tage später war ein Demonstrator zusammengebaut, am 12. April der erste Prototyp. „Wir haben in allen möglichen Labors nach Komponenten gesucht, um das Gerät überhaupt bauen zu können“, erinnert sich Paula Collins. Im Rekordtempo entstand ein Gerät, das einen sicheren Betrieb mit hoher Qualität verbinden soll. Die Projektverantwortlichen konnten nicht nur auf das Wissen von Physikern, Ingenieuren und Technikern insbesondere des LHCb-Experiments zurückgreifen, sondern auch auf medizinische Expertise des ‚Hôpital La Tour‘ in Meyrin (Dr. Laurence Vignaux) sowie der Universitätsspitäler in Lausanne und Genf (Dr. Lise Piquilloud, Prof. Patrick Schoettker).

Von Schweizer Seite am Projekt beteiligt waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Lausanne, der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) sowie der Eidgenössisch Technischen Hochschule Zürich (ETHZ), letztere vertreten durch die Gruppe für Produktentwicklung und Konstruktion um Prof. Mirko Meboldt. Maschinenbauer Meboldt und sein Team sind spezialisiert auf die Validierung insbesondere medizintechnischer Geräte. Die ETH-Wissenschaftler haben nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie ein Testprotokoll entwickelt, mit dem sich überprüfen lässt, ob ein neues Beatmungsgerät den Anforderungen für den Einsatz am Patienten genügt. Beim HEV war dies der Fall, wie Mirko Meboldt sagt: „Wir haben in den letzten Monaten sieben neue Beatmungsgeräte getestet, darunter den HEV. Unsere Ergebnisse haben dem HEV-Projektteam bei der Weiterentwicklung der Software geholfen. Es ist beeindruckend, was die Physikerinnen und Physiker des CERN geleistet haben; ich war begeistert von der Zusammenarbeit über die Disziplinen hinweg.“

Der lange Weg zum Patienten

Das Konzept des HEV-Beatmungsgeräts lag schnell auf dem Tisch und wurde zügig umgesetzt. Bis Patientinnen und Patienten davon profitieren können, wird aber noch einige Zeit verstreichen. Wie alle medizintechnischen Geräte muss auch HEV einen gründlichen Zulassungs- und Zertifizierungsprozess durchlaufen. Und bevor dies möglich ist, muss das Gerät in einer serienfähigen Version vorliegen. Bisher sind sieben Prototypen verfügbar, vier von ihnen werden durch die Jean Gallay SA fertiggestellt – eine Genfer Firma, die Komponenten für die Raumfahrt und den Energiesektor fertigt.

Nach Auskunft von Paula Collins haben schon mehrere Firmen Interesse an einer Produktion des Beatmungsgeräts signalisiert. So laufen Gespräche mit einem indischen Unternehmen, das das HEV-Gerät für die einheimischen Bedürfnisse adaptieren möchte. Paula Collins ist zuversichtlich, dass die Entwicklung aus der Hochenergiephysik einen Beitrag zur Bewältgung der weltweiten Pandemie wird leisten können: „Die COVID-19-Pandemie ist noch längst nicht ausgestanden. Auch wenn es noch dauern wird, bis unser Gerät die Zulassung erhält, hoffen wir doch, dass es bereits in der Coronakrise eine Wirkung entfalten wird.“

Weitere Informationen: https://hev.web.cern.ch

Autor: Benedikt Vogel

Der HEV-Prototyp.
Der HEV-Prototyp.Bild: Photo: Julien Marius Ordan/CERN

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