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Aufbruch in die 'neue Physik'

Neustart LHC

Seit Anfang Juni ist der Large Hadron Collider (LHC) – der grosse Teilchenbeschleuniger am CERN – nach einer gut zweijährigen Revisionspause wieder in Betrieb und liefert neue experimentelle Daten. Die Daten sollen es Wissenschaftlern weltweit möglich machen, völlig neue Einsichten in den Aufbau der Materie zu gewinnen. Einer der beteiligten Physiker ist Tobias Golling (39). Der in Freiburg, Heidelberg, Bonn und am Fermilab bei Chicago ausgebildete Teilchenphysiker lehrt seit Herbst 2014 als Associate Professor an der Universität Genf und forscht am ATLAS-Experiment des LHC. Laut Golling könnten die Daten, die der LHC in den nächsten Monaten und Jahren liefern wird, das Weltbild der modernen Physik einen grossen Schritt voranbringen.

Der an der Universität Genf lehrende Physiker Tobias Golling (39) forscht am ATLAS-Experiment am CERN.

Zugegeben, an der Entdeckung des Higgs-Bosons im Juli 2012 waren neben Tobias Golling noch mehrere Tausend weitere Physikerinnen und Physiker beteiligt. Doch Golling hat einen besonders anschaulichen Beitrag geleistet, indem er am Pixel-Detektor des ATLAS-Experiments mitarbeitete. Der Pixel-Detektor bildet den innersten Teil eines riesigen Messgerätes, mit dem sich die Teilchenspuren registrieren lassen, die entstehen, wenn am LHC zwei Protonen mit hoher Energie aufeinanderprallen und dabei in unzählige subatomare Teilchen zerfallen, aus denen sich das Higgs-Teilchen nachweisen lässt.

Erstklassflug für den Pixeldetektor

Eine wichtige Komponente des Pixel-Detektors hatte Golling im Berkeley Laboratory (Kalifornien) mitentwickelt, wo er seit 2005 als Postdoc tätig war. „Im Jahr 2006 habe ich dann von Berkeley ans CERN nach Genf gewechselt und hatte dabei den Pixel-Detektor mit im Gepäck“, erzählt Tobias Golling und meint das wortwörtlich. „Wir hatten den Detektor in Berkeley gebaut. Für den Transport ans CERN haben wir ihn dann sorgfältig verpackt. Wir hängten ihn an Federn auf, damit er auf der Reise keinen Schaden nahm. Ich bin mit ihm dann von San Francisco über New York nach Genf geflogen. Der Detektor war klein genug, dass er im Flugzeug auf dem Sitz neben mir Platz hatte“, erinnert sich der Physiker. „Der Detektor hatte sogar eine eigene Boardkarte, die auf den Namen Bob lautete. Und wie jeder Fluggast musste er vor dem Einsteigen durch die Sicherheitskontrolle“, schmunzelt Golling. In Genf angelangt, wurde die Detektorkomponente dann mit zwei anderen Teilen zum vollständigen Pixel-Detektor zusammengebaut und bildet seither ein Herzstück des ATLAS-Experiments am LHC. ATLAS und CMS sind zwei von vier LHC-Grossexperimenten, die seit der Inbetriebnahme des LHC 2010 kontinuierlich Kollisionsdaten Daten auswerteten. Diese bildeten die Grundlage für den Nachweis des Higgs-Teilchens im Jahr 2012.

Upgrade des LHC

Die Entdeckung des Higgs-Teilchens war ohne Zweifel der spektakulärste wissenschaftliche Erfolg während der ersten Laufzeit des LHC von 2010 bis 2012. Anfang 2013 wurde der Teilchenbeschleuniger dann ausser Betrieb genommen und einer eingehenden Revision unterzogen. Diese Revision habe einer „Herkulesaufgabe“ geglichen, heisst es in einer Medienmitteilung des CERN. Mehrere 10 000 elektrische Verbindungen zwischen Magneten wurden überprüft und erneuert, Schutzsysteme für Magnete eingebaut. Die Kühlung der Magnete, das Vakuum im Beschleunigerrohrtsystem und die Elektronik wurden verbessert. Die Protonen-Bündel sind neu in einem Abstand von nur noch 25 Nanosekunden unterwegs (bisher 50 ns). Damit verdoppelt sich die Zahl der Proton-Proton-Kollisionen pro Sekunde.

Auf Vordermann gebracht wurde nicht nur der 27 Kilometer lange, unterirdische Beschleunigerring. Viele grosse und kleine Verbesserungen wurden 2013 bis 2015 auch an den vier LHC-Experimenten (ATLAS, CMS, LHCb, ALICE) vorgenommen. So auch am Pixel-Detektor des ATLAS-Experiments, wie Tobias Golling berichtet. Dieser wurde um eine zusätzliche Schicht erweitert. Ein Teil der dafür nötigen Arbeiten wurde in einem Reinraum der Universität Genf ausgeführt. „Die neue Schicht ist nun noch etwa 3 cm vom Kollisionspunkt entfernt statt wie bisher 5 cm. Damit können wir nun noch genauer messen, welche Teilchen bei der Kollision von zwei Protonen entstehen“, sagt Golling, der fünf Jahre in an der renommierten Yale University in Connecticut (USA) lehrte, bevor er im September 2014 die Professur in Genf übernahm. Mitgeholfen hat die Universität Genf auch bei der Verbesserung des Triggers, also jenes Filters, der dazu dient, aus den am LHC erzeugten Daten die relevanten Informationen herauszufiltern und so die schiere Fülle der Daten auf ein Mass zu reduzieren, das von den verfügbaren Rechenkapazitäten verarbeitet werden kann.

Hin zu einer neuen Physik

Nach zwei Jahren Stillstand und einer mehrmonatigen Testphase ist der LHC seit dem 3. Juni 2015 wieder in Betrieb und liefert Daten. Sobald er in auf seine maximale Leistung hochgefahren ist, werden im LHC eine Milliarde Proton-Proton-Kollisionen erzeugt werden – und zwar pro Sekunde. Stark vergrössert in der zweiten Laufzeit des LHC ist nicht nur die Zahl der Kollisionen pro Sekunde (die sogenannte Luminosität), sondern auch die Energie. Die Kollisionsenergie konnte gegenüber der ersten Laufzeit auf 13 Terraelektronenvolt/TeV nahezu verdoppelt werden. Das ist in der mikroskopischen Welt eine gigantische Energie. Energie und Masse hängen über die Einstein-Gleichung E = mc2 zusammen, wie Tobias Golling erläutert: „Je grössere Energien wir im Teilchenbeschleuniger haben, desto massereichere Teilchen können wir erzeugen. Mit 13 TeV sollten wir jetzt die Teilchen erzeugen können, die wir brauchen, um bisher ungeklärte Fragen zu beantworten. Man kann auch sagen: Je höher die Energie, desto kleinere Strukturen der Materie können wir erkennen.“

Mit der Erhöhung von Energie und Luminosität macht der LHC einen grossen Sprung nach vorn. Ein Sprung, den es in späteren Jahren beim LHC wohl niemals mehr geben werde, wie Tobias Golling sagt. „Die nächsten drei Jahre werden ernorm spannend“, sagt der Teilchenphysiker und illustriert das mit einem Vergleich: „Wir machen ein Fenster auf und können in ein Land blicken, zu dem wir bisher keinen Zugang hatten“. Golling erwähnt die Entdeckung des Top-Quarks (1995) und des Higgs-Bosons (2012). „Die Entdeckung dieser Teilchen war bei aller wissenschaftlichen Exzellenz in gewisser Weise auch einfach: Man hat jeweils nach einem neuen Teilchen gesucht, dessen Masse schon durch frühere experimentelle Messungen und theoretische Vorhersagen eingegrenzt war. Jetzt sind im Prinzip alle erwarteten Teilchen gefunden, das Standardmodell ist in gewisser Weise komplett. Wenn wir künftig etwas Neues finden, wird es ganz neue Dimensionen eröffnen.“

Dunkle Materie und supersymmetrische Teilchen

„It is time for new physics! – Es ist Zeit für eine neue Physik!“, sagte CERN-Generaldirektor Rolf Heuer Anfang Juni und brachte damit die Erwartungshaltung an den Second Run des LHC – also die zweite dreijährige Betriebszeit von 2015 bis 2018 – auf den Punkt. Doch welches ist diese neue Physik, die sich heute bereits hinter dem Horizont des Standardmodells ankündigt? Da ist zum einen die Frage, was es mit der Dunklen Materie auf sich hat. Diese bisher unbekannte Form von Materie muss das Universum ausfüllen, wenn die beobachteten Sternenbewegungem mit den Gesetzen der Gravitationskraft in Einklang stehen sollen. „Wenn es Dunkle Materie gibt, dann sollten wir sie auch produzieren können“, sagt Golling, der im ATLAS-Team seit Oktober 2013 (und noch bis September 2015) federführend für die Suche nach exotischer neuer Physik ist, was insbesondere die Suche nach Dunkler Materie und Extradimensionen (siehe unten) mit einschliesst. „Wir haben grosse Chancen, im Second Run des LHC solche Dunkle Materie-Teilchen zu finden – oder zumindest Hinweise auf solche Teilchen“.

Ebenfalls über das Standardmodell hinaus weist die Supersymmetrie. Diese Theorie postuliert, dass jedes bekannte Elementarteilchen einen supersymmetrischen Partner besitzt. Nach diesem Modell liessen sich drei der vier bekannten Kräfte – die elektromagnetische, starke und schwache Wechselwirkung – bei hohen Energien auf eine Urwechselwirkung zurückführen, eine Voraussetzung für eine 'theory of everything', die auch die Gravitation mit einbeziehen würde. Auch die Dunkle Materie könnte innerhalb dieses Modells elegant erklärt werden. Relevant ist das Theoriegebäude möglicherweise auch für die Fragestellung, die Physiker unter dem Stichwort 'Hierarchieproblem' diskutieren. Die Supersymmetrie könnte nämlich die Erklärung dieses Problems liefern. „Die supersymmetrischen Teilchen müssten am LHC bei 13, 14 TeV zu entdecken sein“, sagt Tobias Golling, „zwar ist es denkbar, dass die Teilchen auch bei diesen hohen Energien unsichtbar bleiben, doch dies wäre unnatürlich.“ Für Golling entspräche es einer „kleinen Sensation“, wenn die Physiker im Zuge des Second Run des LHC keine Erklärung des Hierarchieproblems finden würden.

Versteckte Kräfte in unbekannten Dimensionen

Der dritte Bereich, in dem sich die CERN-Physiker in den nächsten Jahren Einblicke in eine 'neue Physik' erhoffen, ist bekannt unter dem Begriff 'Extradimensionen'. Wenn Physiker über zusätzliche Dimensionen jenseits der uns bekannten drei Raumdimensionen nachdenken, klingt das nach Zauberei. Doch solche Überlegungen haben den Vorzug, dass sie physikalische Phänomene elegant erklären könnten. Warum ist die Gravitationskraft im Mikrokosmos so viel schwächer ist als die anderen drei uns bekannten Grundkräfte? Ist dies vielleicht deshalb so, weil ein Teil dieser Kraft in eine Extradimension 'entweicht' und deshalb für uns Menschen – die wir nur drei Raumdimensionen wahrnehmen können – nicht sicht- und erfahrbar ist?

Das Vorhandensein von Extradimensionen könnte also einen Schlüssel zu unserem Verständnis der Materie liefern. Mit der damit einhergehenden Theorie wäre auch das oben erwähnte Hierarchieproblem gelöst, betont Golling. Um auf die Existenz von Extradimensionen schliessen können, müssten die Teilchenphysiker das Graviton nachweisen können, also jenes bisher noch unbekannte Elementarteilchen, welches die Gravitationskraft vermittelt (so wie das Photon die elektromagntische Wechselwirkung, das W- und Z-Boson die schwache Wechselwirkung und das Gluon die starke Wechselwirkung). „Ein möglicher Hinweis auf Extradimensionen könnten Kollisionen sein, bei denen ein Teilchen verschwindet – möglicherweise ein Graviton, dass unser sichtbares Universum verlässt und in eine Extradimension entweicht“, sagt Tobias Golling, „es ist denkbar, dass wir bei 13 oder 14 TeV am LHC Hinweise auf das Graviton erhalten.“

Das Higgs bleibt auf der Tagesordnung

Dunkle Materie, Supersymmetrie, Extradimensionen – „Alles was man findet, würde die Entdeckung des Higgs-Teilchens in den Schatten stellen“, sagt Tobias Golling. So oder so wird aber auch das Higgs-Boson auf der Tagesordnung der CERN-Physiker bleiben. Mit dem weiteren Betrieb des LHC werden nämlich grosse Mengen an neuen Daten hinzukommen, die es erlauben werden, das Higgs-Boson genauer zu vermessen und seine Eigenschaften zu bestimmen. Das mag angesichts der neuen Themen, die die Physiker elektrisieren, fast schon banal klingen. Doch mindestens solange die 'neue Physik' noch Zukunftsmusik ist, dürfte das Higgs-Boson seine Faszination beibehalten.

Benedikt Vogel (veröffentlicht 13. 7. 2015)

  • Teilchenspuren nach einer Proton-Proton-Kollision im Teilchenbeschleuniger LHC am 3. Juni 2015. Die gebogenen Linien zeigen, wie die geladenen Teilchen im Magnetfeld abgelenkt werden.
  • Das Foto zeigt eine der ersten Proton-Proton-Kollisionen im Teilchenbeschleuniger LHC bei einer Energie von 13 TeV, aufgezeichnet am 3. Juni 2015 vom Detektor des ATLAS-Experiments.
  • Teilchenspuren nach einer Proton-Proton-Kollision im Teilchenbeschleuniger LHC am 3. Juni 2015. Die gebogenen Linien zeigen, wie die geladenen Teilchen im Magnetfeld abgelenkt werden.Bild: CERN1/2
  • Das Foto zeigt eine der ersten Proton-Proton-Kollisionen im Teilchenbeschleuniger LHC bei einer Energie von 13 TeV, aufgezeichnet am 3. Juni 2015 vom Detektor des ATLAS-Experiments.Bild: CERN2/2

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