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CHIPP-Preis 2015

Was die Welt im Innersten zusammenhält

Der Universalgelehrte Heinrich Faust stellt in Johann Wolfgang von Goethes bekanntem Theaterstück die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Um eine Antwort zu finden, verschreibt sich Faust sogar der Magie. Die Basler Teilchenphysikerin Lilian Witthauer befasst sich in ihrer Doktorarbeit ebenfalls mit dieser grossen Frage. Sie hat Antworten nicht mithilfe von Magie gefunden, sondern mit durchdachten Experimenten an Elektronenbeschleunigern. Für die hohe Qualität ihrer wissenschaftlichen Arbeit durfte sie am 29. Juni den CHIPP-Preis 2015 entgegennehmen.

Porträt Lilian Witthauer

Viele Menschen denken bei Teilchenphysik unweigerlich an den grossen Teilchenbeschleuniger LHC am CERN. Doch Teilchenphysik findet nicht nur in Meyrin bei Genf statt, sondern praktisch an allen Schweizer Universitäten. Zudem drehen sich längst nicht alle Fragestellungen um Hochenergiephysik. Viel wissenschaftlicher Fleiss fliesst auch in die Niedrig- und Mittelenergiephysik oder in die Untersuchung von Neutrinos und Astroteilchen. Und die physikalische Forschung an der Universität Basel verfolgt nochmals einen ganz eigenen Schwerpunkt: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Prof. Bernd Krusche befassen sich mit der Erforschung der starken Wechselwirkung mit schweizweit einzigartigen Methoden. Die starke Wechselwirkung ist eine der vier Grundkräfte der Natur, neben elektromagnetischer Kraft, schwacher Wechselwirkung und Gravitationskraft. Die Basler Forscher wollen verstehen, wie es der starken Wechselwirkung gelingt, jeweils drei Quarks zu einem Proton bzw. einem Neutron 'zusammenzukleben' und so für die Festigkeit der Atomkerne zu sorgen. Sie wollen – um es mit Faust zu sagen – herausfinden, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Die Physik praktisch näher gebracht

Eine grosse und faszinierende Frage also. Eine Frage, für die der Sachverstand einer einzigen Person nicht ausreicht, sondern die in Basel den Forschungseifer eines ganzer Wissenschaftlerteams beschäftigt. Mit zu dem Team gehört Lilian Witthauer (29), die in in Flüh (SO) und Basel aufgewachsen ist. Lilian Witthauer kam nicht als Teilchenphysikerin zur Welt. In der Schule interessierte sie sich für Kunst, schon früh aber auch für Naturwissenschaften. Später am Basler Leonhard-Gymnasium traf Lilian Witthauer auf eine Physiklehrerin, die sie speziell für ihr Fach begeisterte: „Im Ergänzungsfach Physik unternahmen wir Ausflüge zu einem AKW und arbeiteten mit radioaktiven Quellen; damit hat uns die Lehrerin die Physik praktisch näher gebracht“, erzählt Witthauer.

Lilian Witthauer machte an der Universität Basel den Bachelor und den Master, wandte sich dabei der Experimentalphysik zu. Sie kam in Berührung mit der Forschungsgruppe um Bernd Krusche, die der starken Wechselwirkung auf den Grund geht, indem sie die Anregungsspektren von Nukleonen (Protonen und Neutronen) untersucht. In dem Feld wählte sie dann auch das Thema für ihre Doktorarbeit, die unterdessen fast fertig vorliegt und für die sie am 29. Juni im Château de Bossey nördlich von Genf den CHIPP-Preis 2015 entgegennehmen durfte. Der Preis wird alljährlich durch das Swiss Institute of Particle Physics (CHIPP), der Dachorganisation der Schweizer Teilchenphysik, für die herausragende Arbeit einer Nachwuchsforscherin bzw. eines Nachwuchsforschers vergeben.

Das Geheimnis um die Eta-Mesonen

Will man das Anregungsspektrum von Protonen oder Neutronen untersuchen, kann man diese mit Photonen beschiessen. Durch den Beschuss werden die Nukleonen in resonante Zustände (Resonanzen) versetzt, welche anschliessend unter Aussendung verschiedener Teilchen zerfallen. Lilian Witthauer hat in ihrer Doktorarbeit eine mögliche Zerfallsreaktion untersucht: Jene, bei denen ein Neutron (oder Proton) mit einem Photon beschossen wird und dann in ein Neutron (oder Proton) sowie ein Eta-Meson zerfällt. Eta-Mesonen bestehen aus einem Quark-Antiquark-Paar. Sie sind instabil, was bedeutet, dass sie nur sehr kurze Zeit beobachtet werden können und sofort wieder zerfallen.

Um die Experimente für ihre Doktorarbeit durchzuführen, reiste Lilian Witthauer mehrmals für mehrere Wochen nach Bonn und Mainz. In den beiden deutschen Städten gibt es jene Elektronenbeschleuniger, die die Basler Forscherin für ihre Experimente braucht. Diese Anlagen beschleunigen Elektronen mit elektromagnetischen Wechselfeldern. Dabei entsteht Bremsstrahlung, die aus Lichtteilchen (Photonen) besteht, welche die Wissenschaftler auf eine Zielscheibe (Target) prallen lassen. Das Target besteht zum Beispiel aus Wasserstoff (dessen Kern aus einem Proton besteht) oder Deuterium (dessen Kern aus einem Neutron und einem Proton besteht). Durch diese Anordnung können Experimentalphysiker die Kollision von Photonen mit Protonen bzw. Neutronen herbeiführen. Lilian Witthauer pickte sich jene Zerfälle heraus, bei denen ein Eta-Meson entsteht.

Stoff für bessere Theorien

Warum die ganze Liebesmüh? Mit der Quantenchromodynamik (QCD) besteht doch längst eine Theorie, die die starke Wechselwirkung gut beschreibt? „Ja, das stimmt, bei hohen Energien liefern störungstheoretische Berechnungen der QCD gute Vorhersagen“, erklärt die Basler Physikerin, „bei niedrigen Energien jedoch braucht man andere Lösungsansätze, zum Beispiel phänomenologische Modelle oder rechenintensive Methoden, um die Natur adäquat zu beschreiben. Meine Forschung liefert experimentelle Grundlagen, damit die theoretischen Physiker bessere Modelle zur Beschreibung der starken Wechselwirkung entwickeln können.“ Der Zerfall über das Eta-Meson ist von besonderem Interesse, da er nur bestimmte Resonanzen zulässt, die man dann einfacher untersuchen kann.

Lilian Witthauer ist bei ihren Experimenten in Bonn und Mainz auf einen interessanten Unterschied gestossen: Die angeregten Protonen und Neutronen verhalten sich unter Aussendung eines Eta-Mesons unterschiedlich. „Dank meiner experimentellen Ergebnisse kann ich gewisse Modelle ausschliessen, die zur Erklärung der starken Wechselwirkung entwickelt wurden“, sagt Witthauer. „Sobald meine Daten veröffentlicht sind, können die Theoretiker nochmals über die Bücher und ihre Modelle optimieren.“

Interesse an der Krebsforschung

Mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit leistet Lilian Witthauer einen Beitrag zum Verständnis der Welt. Forschung fesselt sie, und sie möchte nach dem Abschluss ihrer Ausbildung weiter in diesem Bereich tätig bleiben. „Ich möchte in meinem Job etwas tun, das dem einen Sinn gibt, was ich bisher gemacht habe, etwa durch eine Anwendung beim Menschen“, sagt die Wissenschaftlerin, die in ihrer Freizeit gern joggt, zeichnet und fotografiert. Parallel zu der Grundlagenforschung hat sie ein Nachdiplomstudium in Medizinphysik an der ETH Zürich abgeschlossen und sich dabei unter anderem mit Krebstherapien befasst. „In diesem Bereich sind neue Technologien von grosser Bedeutung. Ich würde hier gern den Bogen von Grundlagenforschung zur praktischem Anwendung schlagen“, sagt Witthauer.

Jetzt darf sie sich aber erst einmal über die jüngste Auszeichnung freuen. Es ist die zweite Anerkennung für ihre wissenschaftliche Arbeit, nachdem die Doktorandin an der Universität Basel bereits ein Dreyfus-Stipendium bekommen hatte. „Der CHIPP-Preis ist eine Ehre für mich und Anerkennung meiner Arbeit“, sagt Lilian Witthauer, „und er verschafft der Physik, die wir hier an der Universität Basel betreiben, landesweites Ansehen.“

Benedikt Vogel (veröffentlicht am 29. Juni 2015)

Zwei wissenschaftliche Publikationen von Lilian Witthauer (siehe Links)

  • Lilian Witthauer in Mainz mit dem Detektor der A2-Kollaboration. Hier hat die Basler Teilchenphysikerin einen Teil der Experimente für ihre Doktorarbeit durchgeführt.
  • Ein zentrales Ergebnis von Lilian Witthauers Doktorarbeit: Die Teilchenphysikerin hat zwischen Proton (blau gepunktete Linie) und Neutron (rot gepunktete Linie) einen Strukturunterschied entdeckt. Die Y-Achse zeigt den Wirkungsquerschnitt als Funktion der Energie.
  • Lilian Witthauer (im Bild mit Adrian Signer und Olivier Schneider) erhielt am 29. Juni im Château de Bossey bei Genf den CHIPP-Preis 2015.
  • Lilian Witthauer in Mainz mit dem Detektor der A2-Kollaboration. Hier hat die Basler Teilchenphysikerin einen Teil der Experimente für ihre Doktorarbeit durchgeführt.1/3
  • Ein zentrales Ergebnis von Lilian Witthauers Doktorarbeit: Die Teilchenphysikerin hat zwischen Proton (blau gepunktete Linie) und Neutron (rot gepunktete Linie) einen Strukturunterschied entdeckt. Die Y-Achse zeigt den Wirkungsquerschnitt als Funktion der Energie.Bild: Witthauer2/3
  • Lilian Witthauer (im Bild mit Adrian Signer und Olivier Schneider) erhielt am 29. Juni im Château de Bossey bei Genf den CHIPP-Preis 2015.Bild: Marc Türler3/3

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