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«Hohe Lebensqualität geht auch ohne hohen Ressourcenverbrauch»

Carte blanche für Thomas Hammer und Thea Wiesli, Universität Bern

10.01.2023 – In der Schweiz und in manchen anderen Ländern mit hohen Durchschnittseinkommen ist nicht nur die Lebensqualität hoch, sondern auch der Verbrauch natürlicher Ressourcen. Ein gutes Leben hängt aber nicht zwingend davon ab. Von grundlegender Bedeutung sind vielmehr immaterielle Faktoren wie Familie und Freundschaften, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Zugehörigkeit und eine sinnstiftende Arbeit.

Thomas Hammer und Thea Wiesli
Bild: zvg

Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Schreibenden wieder und muss nicht mit der Haltung der SCNAT übereinstimmen.

Die Diskussionen um den Klimawandel, den ökologischen Fussabdruck, die Energiewende, den Import von Futter- und Lebensmitteln oder die Konzernverantwortungsinitiative haben uns vor Augen geführt, dass der Wohlstand in der Schweiz mit einem hohen Verbrauch von natürlichen Ressourcen verbunden ist, der Umwelt und Menschen beeinträchtigt. Im Prinzip ist die Einsicht vorhanden, dass wir dieses Wohlstandsmodell nicht aufrechterhalten können – umso mehr, wenn der Lebensstandard auch in anderen Regionen der Welt steigen soll.

Effizienzmassnahmen und technische Innovationen bringen wichtige Verbesserungen, können die Probleme alleine aber nicht lösen. Eine Reduktion des Ressourcenverbrauchs wird hingegen schnell als Einschränkung, Verzicht oder Verlust wahrgenommen, was wenig motivierend wirkt, eine solche mitzutragen. Dabei zeigt schon ein kurzer Blick in die Daten, dass Länder mit einem hohen durchschnittlichen Ressourcenverbrauch nicht automatisch eine hohe durchschnittliche Lebensqualität aufweisen.

Die materialistischen Narrative überwinden

Dagegen weisen verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen – so auch unsere Studien in Schweizer Naturpärken – darauf hin, dass immaterielle Faktoren eine hohe Bedeutung haben. Dazu gehören die Attraktivität von Natur und Landschaft, naturnahe Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten, soziale Beziehungen, Gesundheit, Gleichstellung, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Zugehörigkeit, kollektive Emotionen oder eine sinnstiftende Arbeit. Besonders überrascht hat uns, dass die meisten der Befragten besonders die sozialen Faktoren als zentral für ihre Lebensqualität erachten.

Die Förderung solcher sozialer Faktoren verbessert nicht nur unsere Lebensqualität, sie verbraucht auch wenig Ressourcen. Diese Botschaft sollte in der öffentlichen Diskussion viel stärker im Fokus stehen. Es gilt, die Narrative wie jenes von der Notwendigkeit ständigen Wirtschaftswachstums – die in der Vergangenheit durchaus ihre Berechtigung hatten und in gewissen Regionen der Welt immer noch haben – zu korrigieren. Wir müssen wegkommen von der Sicht, dass unsere Lebensqualität vor allem von einem hohen Einkommen, der Menge verfügbarer Güter und Dienstleistungen oder materiellen Statussymbolen abhängt.

Ein ganzheitlicheres Verständnis, was Lebensqualität ausmacht, nimmt den anstehenden Herausforderungen wie zum Beispiel den Umstellungen in der Ernährung, in der Mobilität, beim Wohnen oder beim Alltagskonsum den schalen Beigeschmack von Einschränkung, Verzicht und Bevormundung. Dazu braucht es auch die entsprechenden strukturellen Anpassungen und Begegnungsräume, welche eine nachhaltige Lebensqualität in diesem Sinne ermöglichen.

Chancen statt Verlustängste

Die Diskussionen um alternative Wohlfahrtsvorstellungen haben sich im akademischen Diskurs und in gesellschaftlichen Nischen schon festgesetzt. Dazu gehören Themen wie Postwachstumsgesellschaft, Care-Arbeit, Zeitwohlstand, Genügsamkeit oder Work-Life-Balance. Jetzt geht es darum, die Chancen, welche solche immateriellen Aspekte für eine hohe Lebensqualität eröffnen, in die Öffentlichkeit zu tragen. Damit lässt sich den Narrativen, welche primär Verlustängste schüren, etwas entgegenstellen und der Boden bereiten, auf dem die notwendigen Veränderungen gedeihen können.


Thomas Hammer ist Professor für Nachhaltige Regional- und Landschaftsentwicklung am Interdisziplinären Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern. Thea Wiesli arbeitet als Senior Research Scientist am CDE.

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